Eine Gratwanderung

Recep Tayyip Erdogan - aus dem Armenviertel in den Regierungspalast

29.07.16 22:12 Uhr

Recep Tayyip Erdogan - aus dem Armenviertel in den Regierungspalast | finanzen.net

Kaum ein Staatschef spaltet eine Nation so sehr wie aktuell Präsident Erdogan die Türkei. Während ein großer Teil seines Volkes für ihn auf die Straße geht, schaut der andere Teil mit Bedenken in die Zukunft. Welchen Kurs verfolgt Erdogan wirklich?

Nicht erst seit dem vereitelten Militär-Putsch im Juli 2016 ist klar, dass sich die Türkei im Umbruch, wenn nicht gar an einem Scheideweg, befindet. Einerseits hat sich das Land vor einiger Zeit entschlossen der EU beizutreten, was Modernisierungen und Reformen erfordert. Doch auf der anderen Seite tendiert Präsident Erdogan immer stärker zum Einzug konservativ-religiöser Vorschriften auch auf dem politischen Parkett. Erdogan wird vom türkischen Volk sowohl frenetisch gefeiert als auch gefürchtet, sein Tun wird von seinen Befürwortern hochgelobt und von seinen Gegnern scharf verurteilt. Diese Zwiespältigkeit in der türkischen Gesellschaft ist jedoch kein neues Phänomen in der Türkei.

Von "schwarzen" und "weißen" Türken

Die Gegensätze, die das türkische Volk spalten, reichen weit in die Vergangenheit zurück - in eine Zeit vor Erdogan. Die türkische Soziologin Nilüfer Göle hat für diesen inneren Konflikt in der Türkei das Begriffspaar "weiße Türken" und "schwarze Türken" geprägt - "weiß" die verwestlichte urbane Elite, die vom kemalistischen Establishment profitierte und wichtige Posten in Militär, Bürokratie und Verwaltung innehatte, "schwarz" die ländlichen Türken, die sich - eher konservativ und religiös eingestellt - von den Kemalisten von oben herab und als rückständig behandelt fühlten. In die bescheidenen Verhältnisse einer solchen Familie "schwarzer" Türken wird am 26. Februar 1954 Recep Tayyip Erdogan hineingeboren. In Kasimpasa, dem Istanbuler Arbeiter- und Hafenviertel verkauft der junge Erdogan Sesamkringel, um davon die Schulbücher zu bezahlen, wie der heutige Präsident selbst bereits oft erzählte. Er besucht die "Imam-Hatip-Schule", ein religiöses Gymnasium, seine Eltern sind fromme Sunniten. Dort fällt er bereits früh durch seine tiefe Religiosität auf und erwirbt sich dafür den Spitznamen "Koran-Nachtigall".

Erdogans erste politische Schritte: Vom Extrem zur vermeintlichen Mitte

In den Siebzigerjahren betritt Erdogan zum ersten Mal politisches Parkett. Sein großes Idol ist damals Necmettin Erbakan, ein Verfechter des politischen Islams, der verschiedene extrem islamisch ausgerichtete Parteien gründet, die jedoch immer wieder verboten werden. Die Journalistin Cigdem Akyol schreibt in ihrer Biografie über den türkischen Präsidenten, "Erbakans Parolen für eine Rettung durch den Islam oder einen ‚Gottesstaat‘" seien für Erdogan "eine Offenbarung" gewesen. Fakt ist: Im Fahrwasser von Erbakan macht auch Erdogan eine steile Karriere und bringt es in relativ kurzer Zeit 1994 zum Oberbürgermeister von Istanbul - als Mitglied der Nachfolgepartei der "islamistischen Nationalen Ordnungspartei", die für die Rückkehr zu religiösen Werten eintritt. Erdogans Erfolg fußt bereits damals verstärkt auf der Tatsache, dass er den "schwarzen Türken", der Mehrheit im Volk, um die sich die Kemalisten nicht kümmerten, eine Stimme gibt. Selbst aus armen Verhältnissen stammend, kennt er die Lebenswirklichkeit der ärmeren Teile der Bevölkerung aus erster Hand - seine Umfragewerte schnellen in die Höhe. Auch in seinem Amt als Oberbürgermeister ist Erdogan alles andere als untätig, im Gegenteil sogar: Er räumt kräftig auf. So strafft er nicht nur den Verwaltungsapparat der Stadt für mehr Effizienz, er baut auch die erste Istanbuler Metro. Neben den großen Umwälzungen führt Erdogan jedoch auch Neuerungen ein, die auf religiösen Vorschriften beruhen. So setzt er ein Alkoholverbot für alle Lokale der Stadt durch und trägt sich sogar mit Plänen für getrennte Schulbusse von Mädchen und Jungen.

Erdogan muss zurückrudern: Die Geburtsstunde der AKP

Mit seinen religiösen Neuerungen überspannt Erdogan für die Kemalisten den Bogen - sie wollen seinen Sturz. Dies gelingt zunächst, nachdem Erdogan öffentlich Verse des bekannten Dichters Ziya Gökalp zitiert: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette …". Daraufhin wird er 1999 wegen Volksverhetzung verhaftet. Außerdem erhält er ein lebenslanges Politikverbot. Obwohl die Haftstrafe nur kurz ist, tritt Erdogan nach seiner Entlassung sehr verändert auf. Er gibt sich als geläutert, ist offenbar zu dem Schluss gekommen, dass ein Islamist - wie sein Idol Erbakan - im kemalistischen Umfeld keine große politische Karriere machen kann. Also bricht er öffentlichkeitswirksam mit Erbakan, tritt aus der "Tugendpartei", der TP, aus und hebt 2001 eine neue, eigene Partei aus der Taufe: Die AKP - die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung. Entgegen kam Erdogan dabei eine vorherige Verfassungsänderung, die es ihm erlaubte, sich doch wieder politisch zu betätigen. Im gleichen Jahr wurde die TP verboten - ein Teil der Anhänger gründete die "Partei der Glückseligkeit", die gemäßigten Islamisten wechselten jedoch zu Erdogan in die AKP.

Mit der AKP in die Regierung

Die neu gegründete AKP schreibt sich offiziell demokratische Werte, die kulturelle Autonomie der Kurden und den Laizismus auf die Fahnen. Dennoch stimmt Erdogans Partei im Sommer 2002 gegen die vom Parlament beschlossene Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten. Der Beschluss sollte vor allem den Weg für den Antrag der Türkei auf Aufnahme in die EU ebnen. Im selben Jahr zieht die AKP nach den Wahlen vom 3. November jedoch als stärkste Partei in das türkische Parlament ein. Allerdings kann Erdogan zu diesem Zeitpunkt nicht den Parteivorsitz übernehmen - er ist wegen seiner früheren Verurteilung von einer Kandidatur ausgeschlossen. Abdullah Gül übernimmt an Erdogans Stelle zunächst das Amt des Ministerpräsidenten, gilt jedoch unter der Hand als Übergangslösung bis zur Legalisierung Erdogans. Im Frühjahr 2003 ist es soweit: Erdogan nimmt sein Parlamentsmandat wahr, das er durch Nachwahlen errungen hat. Am 11. März 2003 tritt Erdogan schließlich sein neues Amt an.

Erdogans Regierung: Auf dem Weg in die EU

Erklärtes Ziel der Regierung Erdogans war von Beginn an vor allem auch die Westanbindung der Türkei und damit der Beitritt zur Europäischen Union. Doch die Verhandlungen gestalten sich zunächst schwierig. Im Zentrum der Debatte: Die Kurden- und Zypernfrage. Bereits im März 2003 hatte Erdogan im Zuge des amerikanisch-britischen Angriffs auf den Irak Kompromisse bezüglich des Kurdenproblems ausgehandelt. Im Gegenzug für die Erteilung von Überflugsrechten an die US-Army, besetzen türkische Truppen Teile des Nordirak, um dort die Kurden zurückzuhalten - trotz internationaler Proteste. Dennoch: Im Herbst 2004 sind die Verhandlungen soweit gediehen, dass Erdogan die volle Unterstützung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer für den EU-Beitritt besitzt. Innerhalb von zehn bis 15 Jahren, solle der Beitritt vollzogen sein. Doch es tauchen weitere Hindernisse auf: Die Debatte über den türkischen Völkermord an den Armeniern im Zuge des ersten Weltkriegs 1915 erschwert den Annäherungsprozess erneut. Das EU-Parlament macht am 28. September 2005 eine Erklärung aus Ankara bezüglich des Völkermords an den Armeniern zur Bedingung für einen Beitritt der Türkei. Am 3. Oktober 2005 nimmt der türkische Außenminister und ehemaliger Ministerpräsident Abdullah Gül offiziell die Beitrittsverhandlungen mit der EU auf.
Daneben boomt die türkische Wirtschaft, der Wohlstand im Land wächst. Zurecht gilt Erdogan als Hoffnungsträger. Auf Wunsch der EU reduziert er auch den politischen Einfluss der Streitkräfte im Land. 2004 wird Recep Tayyip Erdogan als erster Türke in Berlin als "Europäer des Jahres" geehrt. Das "Time Magazin" setzt ihn nach seiner dritten Wiederwahl 2011 auf die Titelseite. Doch das Bild des großen Modernisierers kippt mit jedem Wahlsieg etwas mehr. Erdogan gibt sich im Laufe seiner Regierungsjahre zunehmend radikaler.

Erdogan ändert den Kurs

Die Reformen geraten immer mehr ins Stocken. Zunehmend widmet sich Erdogan der Umbildung der bestehenden Ordnung hin zu einem repressiveren System. Er bewundert das untergegangene Osmanische Reich und dessen Größe, das patriarchalische Wertesystem, die religiösen Traditionen. Nicht von ungefähr kommt etwa seine Forderung, an den Schulen wieder Osmanisch zu unterrichten.
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2014 wählen die Türken Erdogan zum ersten Mal direkt zum Präsidenten - er gewinnt im ersten Anlauf. Seither nimmt die Frequenz und die Qualität seiner Umwälzungen weiter zu. Auf der einen Seite sorgt Erdogan für internationales Kopfschütteln, wenn er sich dafür ausspricht, dass türkische Frauen in der Öffentlichkeit weniger laut lachen sollen. Daneben setzt er jedoch auch Gesetze durch, die auf die Lebenswirklichkeit der türkischen Bürger abzielen. Wie etwa vor wenigen Wochen ein neues Alkoholgesetz, das den Ausschank nach 22 Uhr untersagt und Werbung für Alkoholika verbietet. Nicht etwa, weil die Türkei ein Alkoholproblem hätte, sondern aus religiösen Gründen. "Das alte Alkoholgesetz wurde von zwei Säufern durchgesetzt, sollen wir nicht lieber das Gesetz Gottes vorziehen?" begründet Erdogan das neue Gesetz im Parlament. Forderungen und Gesetze dieser Art zielen auf die Identität des türkischen Volkes ab, die Erdogan offenbar umbilden will. Diese Wendung verschafft Erdogan auf der einen Seite große, in Teilen an Fanatismus grenzende, Rückendeckung im Volk. Auf der anderen Seite werden jedoch immer mehr Proteste von Aktivisten laut, die ihr Leben nicht an dem konservativ-islamischen Kurs Erdogans ausrichten wollen. Die Kluft zwischen beiden Lagern wird größer, verschärft sich mit jedem neuen Vorstoß Erdogans. Vor wenigen Wochen entlädt sich die Anspannung in einem Militärputsch - der jedoch scheitert.

Erdogan schickt das Volk auf die Straße

"Mein liebes Volk, gib nicht den heroischen Widerstand auf, den du für dein Land, deine Heimat und deine Fahne gezeigt hast" - so beginnt eine der Nachrichten, die Erdogan seit dem Putsch auf die Handys der türkischen Bevölkerung schicken lässt. Der Tonfall, den Erdogan inzwischen gegenüber den Türken und im Parlament anschlägt, hat sich verschärft. Die Protestierenden, vorher noch als "Lumpen" und "Extremisten" bezeichnet, nennt Erdogan nun "Verräter". Die Ursprünge der Unruhen will Erdogan im Ausland sehen. Nicht wenige, auch im Parlament selbst, reagieren entsetzt. "Er redet wie ein Diktator", äußerte sich etwa Veli Agbaba, Abgeordneter der kemalistischen Partei CHP. Erdogan betrachte "die Hälfte des türkischen Volkes offenbar als seine Feinde. Er wiegelt die Menschen gegeneinander auf."

Erdogan - ein Islamist?

Auf die Frage ob Erdogan ein Islamist sei, gibt zumindest Biographin Cigdem Akyol eine eindeutige Antwort: Nein. Zwar sei gesichert, dass Erdogan sich eine islamisch-konservative Gesellschaft unter Vorherrschaft des sunnitischen Islam wünsche. Doch der Motor von Erdogans Streben sei nicht etwa der Islam an sich, sondern vielmehr die Überhöhung seiner eigenen Person, das "sonnenkönighafte ‚Der Staat bin ich‘". Vielmehr sei Erdogan ein "Taktiker erster Güte", als ein Islamist.

Zumindest ein Ziel hat Erdogan bereits erklärt: Er will auch noch 2023 Präsident sein. In diesem Jahr feiert die Türkische Republik ihren 100. Geburtstag. Sollte Erdogan dann immer noch an der Spitze des Staates stehen, könnte er damit eventuell endlich den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk überflügeln - und endgültig in die Geschichtsbücher einziehen. An seiner vermeintlichen Unentbehrlichkeit für die Türkei arbeitet Erdogan indes weiter. Erst jüngst erklärte er öffentlich: "Wenn ich gehe, dann werden dieses Land, dieser Staat und diese Nation kollabieren." Mit diesem Alleinvertretungsanspruch steht Erdogan jedoch in einer Reihe mit den Kemalisten, die die Demokratisierung der Türkei zu unterdrücken suchten und gegen die er am Anfang seiner politischen Karriere im Namen der "schwarzen Türken" so vehement aufbegehrt hatte.

Redaktion finanzen.net

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