Wirtschaftsweiser Schmidt: „Sonst fliegt uns das System um die Ohren“
RWI-Chef Schmidt sieht angesichts der hohen Staatsverschuldung keinen Spielraum für einen kräftigen Aufschlag bei Hartz IV. Seine Gründe erläutert er im Interview mit Euro am Sonntag.
von Thomas Schmidtutz, Euro am Sonntag
Der Wirtschaftsweise Christoph M. Schmidt hat vor einer zu starken Anhebung der Hartz-IV-Sätze gewarnt. Es müsse einen angemessenen Abstand zu den Löhnen von niedrig qualifizierten Arbeitnehmern geben, sagte der Chef des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) gegenüber der Wirtschaftszeitung Euro am Sonntag.
Euro am Sonntag: Herr Prof. Dr. Schmidt, die Bundesregierung lässt die Höhe der Hartz-IV-Sätze prüfen. Derzeit liegt der Regelsatz bei 359 Euro. Halten Sie das für angemessen?
Schmidt: Wenn man bedenkt, wie wenig manche Geringqualifizierte mit ihrem Arbeitseinsatz erwirtschaften können, erscheint mir diese Höhe des Regelsatzes nicht unangemessen. Schließlich geht es darum, eine Durststrecke abzufedern, nicht darum, einen dauerhaften Verbleib außerhalb des Arbeitsmarkts zu finanzieren.
Die Bundesregierung erwägt Medienberichten zufolge, die Sätze künftig je zur Hälfte an der Entwicklung der Nettolöhne und der Inflation auszurichten. Wie sollte eine Neuregelung der Regelsätze Ihrer Aussicht nach aussehen?
Natürlich geht es um die Unterstützung eines realen Bedarfs, so dass Inflation zu berücksichtigen ist. Es sollte allerdings grundsätzlich ein Abstand zu den Lohneinkommen von niedrig qualifizierten Arbeitnehmern bestehen bleiben, sonst fliegt uns das ganze System um die Ohren.
Die Kirchen fordern Sätze von über 400 Euro. Notfalls sollten dazu auch höhere Schulden in Kauf genommen werden. Wäre das der richtige Weg?
Ich finde diese Position schlichtweg unverantwortlich: Schulden belasten grundsätzlich die künftigen Generationen, und gerade diese haben keinen Anwalt ihrer Interessen. Und gehört es nicht zum Selbstverständnis der modernen Sozialethik, dass Hilfe zur Selbsthilfe gewährt werden sollte?
Kritiker warnen, dass mit einem höherem Regelsatz der Anreiz zur Arbeitsaufnahme sinken werde. Teilen Sie diese Einschätzung?
Dieses Abwägungsproblem zwischen Unterstützung von Bedürftigen und Anreiz zur Selbsthilfe gibt es natürlich. Es lässt sich auch empirisch gut belegen.
Wie soll das im Sozialgesetzbuch festgeschriebene Lohnabstandsgebot sichergestellt werden? Wo verläuft aus Ihrer Sicht ein angemessener Lohnabstand?
Selbst ein hoher zweistelliger Euro-Betrag wäre im Normalfall wohl zu gering. Den richtigen Abstand festzulegen, ist jedoch schwierig.
Bundesfamilienministerin von der Leyen erwägt auch ein Gutschein-System zugunsten von Kindern in Hartz-IV-Familien für Bildungs- und Sachleistungen wie Schulessen oder Sportvereine. Würde das nicht genügen, um der vom Bundesverfassungsgericht geforderten größeren Teilhabe von Kindern aus sozial schwächeren Familien stärker zu berücksichtigen?
Das ist ein guter Vorschlag, denn die staatliche Hilfe soll zielgenau bei denen ankommen, die ihrer bedürfen und deren spätere Chancen am Arbeitsmarkt dadurch erhöht werden dürften.
Die Steuereinnahmen entwickeln sich bislang dank der guten Konjunktur besser als erwartet. Sehen Sie vor diesem Hintergrund einen höheren Verteilungsspielraum, etwa um den Regelsatz für Hartz-IV anzuheben?
Angesichts der enormen Verschuldung von Bund, Ländern und Kommunen auf keinen Fall.
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Gefahr, dass die geplanten Einsparziele angesichts höherer Steuereinnahmen aufgeweicht werden?
Da bin ich durchaus besorgt – und die derzeitigen Absetzbemühungen einiger Ministerien von den Sparbeschlüssen belegen, dass die Sorge berechtigt ist.
