Ein Märchen, das sich jedes Jahr neu erzählt - Die Jahresendrallye

Die Jahresendrallye ist das Lieblingsmärchen der Börse: Kaum fällt das erste Laub, wird von ihr gesprochen - als käme sie so sicher wie der Advent. Doch hinter dem Phänomen steckt eine Mischung aus Statistik, Psychologie und Hoffnung.
Der Oktober ist für viele Anleger ein Moment des Innehaltens: Zeit für Rückblick und Ausblick zugleich. Häufig geht damit die Hoffnung auf einen versöhnlichen Jahresabschluss einher - und tatsächlich kam es in der Vergangenheit oft zu freundlichen Börsenphasen zum Jahresende. Doch die Märkte reagieren weniger auf Kalenderdaten als auf Vertrauen, Liquidität und Perspektive. Entscheidend ist also nicht, ob eine Rallye kommt, sondern wie man vorbereitet ist, wenn sie kommt.
Was steckt wirklich dahinter?
Die Idee der Jahresendrallye lebt von einer faszinierenden Mischung aus Zahlen und Gefühlen. Statistisch zeigen sich zwischen November und Jahresende oft überdurchschnittliche Renditen - rund zwei Drittel der Jahre verliefen positiv, in Deutschland wie in den USA.
Doch hinter den Zahlen steckt mehr als nur Mathematik. Ein Teil des Effekts ist psychologischer Natur: Gute Jahre nähren Optimismus, schlechte die Hoffnung auf einen versöhnlichen Abschluss. Fondsmanager "polieren" ihre Portfolios und Privatanleger lassen sich von der Vorstellung leiten, dass es "immer schon so war".
All das führt zu einem spannenden Paradox: Je stärker die Erwartung einer Rallye, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie ausbleibt. Denn Erwartungen schaffen Positionierungen - und die Märkte belohnen selten das, worauf sich alle vorbereiten.

Was Anleger daraus lernen können
Für Anleger ist die wichtigste Erkenntnis: Eine Jahresendrallye kann kommen - muss aber nicht. Wer auf eine Rallye wettet, riskiert Fehlentscheidungen. Besser: Das Portfolio prüfen, Gewinne sichern, Risiken reduzieren, Rebalancing durchführen. Solche Anpassungen helfen, Risiken zu reduzieren und die gewünschte Gewichtung wiederherzustellen - unabhängig davon, ob die Rallye eintritt oder nicht. Auch steuerlich lohnt sich jetzt der Blick: Verluste realisieren, Gewinne sichern, Freibeträge nutzen - das sind konkrete Maßnahmen, die echten Mehrwert schaffen. Wer dagegen auf eine "kalendergetriebene" Kursfantasie setzt, lässt Chancen auf der Strecke. Noch wichtiger: Eine gute Anlagestrategie braucht kein "Jahresendrallye-Glück". Wer regelmäßig investiert, breit diversifiziert bleibt und eine klare Struktur verfolgt, profitiert langfristig stärker - egal, ob die Märkte zum Jahresende steigen oder seitwärts laufen.
Ob die Jahresendrallye kommt oder nicht - entscheidend ist, investiert zu bleiben. Oder wie Benjamin Graham sagte: "Ein Anleger, der sich von unbegründeten Marktschwankungen nervös machen lässt, verwandelt seinen größten Vorteil - Geduld - in einen Nachteil." Denn an der Börse ist es wie in jedem guten Märchen: Wer Geduld hat, bekommt am Ende meist ein Happy End.
von Stephan Albrech, Albrech & Cie. Vermögensverwaltung AG in Köln
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Bildquellen: tradistats.com