Kapitalismus auf Steroiden

23.10.25 10:04 Uhr

Wie jeder technologische Fortschritt seit der industriellen Revolution zielen die neuen Technologien darauf ab, menschliche Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Auch die Künstliche Intelligenz steht in dieser Tradition. So gesehen unterscheidet sie sich nicht von der selbsttätigen Spinnmaschine, die in den 1820er Jahren die Baumwollindustrie veränderte: Sie ersetzt menschliche Arbeitskraft, wobei dies heute auf einem deutlich höheren Niveau menschlicher Fähigkeiten geschieht. Diese Entwicklung war in vielerlei Hinsicht vorhersehbar. Denn historisch betrachtet stieg das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte, die durch Maschinen verdrängt wurden, kontinuierlich an – beginnend mit einfachen, monotonen Tätigkeiten, wie sie einst von Sklaven verrichtet wurden, bis hin zu immer anspruchsvolleren Formen menschlicher Arbeit.Diejenigen, die neue Maschinen entwickeln, sie zum Einsatz bringen oder die in neue Technologien investieren, profitieren überproportional.Aus Verteilungssicht ergibt sich das Problem, dass mit der Substitution von Arbeit durch Kapital auch ein immer größerer Anteil des Nationaleinkommens dem Kapital zufließt. Übertragen auf die realen Personen, die diese Einkünfte erhalten, bedeutet das: Diejenigen, die neue Maschinen entwickeln, sie zum Einsatz bringen oder die in neue Technologien investieren, profitieren überproportional. Investoren sind per definitionem Menschen, die Kapital besitzen und die damit zur obersten Schicht der Einkommensverteilung zählen. Wenn der Anteil des Kapitals zunimmt, nimmt nahezu zwangsläufig auch die Einkommensungleichheit insgesamt zu.Das wirft natürlich die Frage auf, mit welchen politischen Instrumenten den wachsenden Einkommensunterschieden Einhalt geboten werden könnte – oder wie sie zumindest abgeschwächt werden könnten. Im Wesentlichen gibt es drei Möglichkeiten: Erstens könnte das Kapitaleigentum breiter verteilt werden, damit der wachsende Kapitalanteil sich nicht nur an der Spitze der Gesellschaft bemerkbar macht. Zweitens ließen sich besonders hohe Kapitaleinkünfte stärker besteuern als bisher. Und drittens könnte man bestimmte neue Finanzaktivitäten verbieten, die Gewinne für die Beteiligten abwerfen, aber keinen direkten wirtschaftlichen Nutzen bringen. Mit diesen drei Möglichkeiten befasse ich mich im Folgenden. Erstens: Kapitaleigentum breiter verteilen. Die Kapitalkonzentration ist außerordentlich hoch. In Volkswirtschaften mit hohen und mittleren Einkommen beziehen durchschnittlich 77 Prozent der Haushalte keine oder fast keine zahlungswirksamen Erträge aus Kapital – wobei mit „fast keine“ definitionsgemäß Erträge bis 100 Dollar pro Person und Jahr gemeint sind. Kapital umfasst in diesem Zusammenhang nur – und das sollte mitgedacht werden – Finanz- oder Produktionskapital, das seinem Eigentümer zahlungswirksame Erträge einbringt. Es ist nicht gleichzusetzen mit dem Vermögen von Haushalten, zu dem etwa selbst genutztes Wohneigentum, Schmuck, Gemälde und Möbel gehören. Die Länder mit der breitesten Streuung von Kapitaleinkünften – also mit dem geringsten Anteil an „Haushalten ohne Kapital“ – sind Norwegen, Südkorea und interessanterweise China. Doch selbst dort bezieht rund die Hälfte der Haushalte keine Kapitaleinkünfte. In den Vereinigten Staaten liegt dieser Prozentsatz bei fast 60 Prozent, in anderen Ländern mit hohem Einkommensniveau sogar bei über 70 Prozent.Wie schon erwähnt, gibt es mit Blick auf die Künstliche Intelligenz folgendes Problem: Wenn nur wenige Menschen über Finanz- und Produktionskapital verfügen, werden von dessen wachsender wirtschaftlicher Bedeutung am Ende nur diejenigen profitieren, die bereits Kapitalvermögen besitzen. Dadurch werden die Reichen noch mächtiger und die Vermögensungleichheit wird noch größer. Dies ist nicht erst dann der Fall, wenn die Zahl der Haushalte mit „Nullvermögen“ steigt, sondern es genügt bereits, wenn diejenigen an der Spitze der Vermögensverteilung noch reicher werden.Wie lässt sich das Eigentum an Kapital breiter verteilen? Diese Frage wurde schon früher aufgeworfen – bislang jedoch mit bescheidenen Ergebnissen. Margaret Thatcher sprach einst vom „Volkskapitalismus“. In der Praxis führte das vor allem zur Privatisierung von Sozialwohnungen. Eine andere Möglichkeit, die dazu beitragen sollte, das Eigentum auf die Arbeitnehmer zu verteilen, waren die Mitarbeiterbeteiligungsprogramme (Employee Stock Ownership Plans, ESOP) in den Vereinigten Staaten. Auch sie waren nur mäßig erfolgreich – was, wie Isabel Sawhill betonte, vor allem daran lag, dass es für die Ausgabe von Aktien an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine steuerlichen Anreize gab. Würden Unternehmen steuerliche Vorteile erhalten, wenn sie Anteile an ihre Beschäftigten ausgäben, würden vermutlich deutlich mehr ESOPs aufgelegt. Tatsächlich gibt es keinen plausiblen Grund, warum CEOs Vergütungen in Form von Unternehmensaktien erhalten sollten und Beschäftigte nicht. In einigen Ländern wurden private Pensionsfonds genutzt, um zum einen leistungsbezogene Rentensysteme abzuschaffen, die finanziell potenziell nicht tragbar waren, und zum anderen um die Kapitaleinkünfte breiter zu verteilen.Wenn Einkünfte aus privaten Renten mitgerechnet werden, sinkt der Anteil der Haushalte ohne Kapitaleinkünfte in Großbritannien von 84 auf 79 Prozent. Alle genannten Ansätze könnten gezielt eingesetzt werden, um Kapitaleigentum auf mehr Menschen zu verteilen und so die wachsende Einkommensungleichheit abzumildern, die mit der zunehmenden Anwendung neuer Technologien wie der Künstlichen Intelligenz nahezu zwangsläufig einhergeht.Zweitens: Besteuerung besonders hoher Kapitaleinkünfte. Ein weiteres Instrument, mit dem die wegen Kapitaleinkünften wachsende Ungleichheit eingedämmt werden könnte, ist die Besteuerung von Kapital. Sie gilt oft als einzige Lösung – doch die Besteuerung sollte, wie bereits angedeutet, nur eine von mehreren Maßnahmen sein. Nicht jedes Problem lässt sich durch höhere Abgaben beheben. In den Vereinigten Staaten werden Kapitaleinkünfte paradoxerweise niedriger besteuert als vergleichbare Arbeitseinkommen: Der Grenzsteuersatz beträgt für Arbeitseinkommen unter 100 000 Dollar pro Jahr 24 Prozent und für Kapital 15 Prozent. Bei Einkommen über 400 000 Dollar ist die Differenz sogar noch größer: 35 gegenüber 15 Prozent (siehe auch Ray D. Madoff in seiner exzellenten Publikation The Second Estate: How the Tax Code Made an American Aristocracy, die demnächst erscheint). Für eine höhere Besteuerung von Kapital gäbe es also reichlich Spielraum.Eine weitere Möglichkeit, die in vielerlei Hinsicht einer Besteuerung gleichkommt, besteht darin, dass der Staat explizit Eigentümer derjenigen neuen Technologien und Innovationen wird, deren Entwicklung wesentlich durch öffentliche Mittel gefördert wurde – bei denen der Staat möglicherweise als Angel Investor fungiert hat. Solche staatlichen Beiträge werden oft übersehen. Mariana Mazzucato hat dieses Phänomen anhand vieler Unternehmen im US-amerikanischen Silicon Valley überzeugend dokumentiert. Ähnliches dürfte auch heute zu beobachten sein, und Staaten sollten sich nicht scheuen, ihr Anrecht auf Beteiligung an den Kapitalerträgen geltend zu machen. Die Entscheidung der US-Regierung, sich in erheblichem Umfang an Intel zu beteiligen, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. In Ländern wie China lässt sich eine solche Eigentümerrolle des Staates noch leichter rechtfertigen, weil die Regierung dort – direkt wie indirekt – eine noch größere Rolle bei der Förderung von Innovationen spielt.Drittens: Verbot schädlicher neuer Technologien. Eine letzte Möglichkeit, zu verhindern, dass durch neue Technologien die Ungleichheit verschärft wird, ist das Verbot einiger spekulativer Aktivitäten, die eindeutig „unproduktiv“ sind. Das ist zweifellos der schwierigste und radikalste Ansatz. Er sollte mit äußerster Vorsicht eingesetzt, gleichwohl aber nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Was in der Ökonomie als „unproduktive“ Tätigkeit gilt, lässt sich nur schwer bestimmen. Theoretisch ist jede Form wirtschaftlicher Aktivität – und damit auch das daraus erzielte Einkommen – legitim, solange sie auf freiwilligen Transaktionen zwischen Wirtschaftsakteuren basiert. In der Praxis gibt es jedoch Grenzen. Das Handeln mit Drogen oder Waffen ist in vielen Ländern verboten, obwohl beides auf freiwilligem Austausch zwischen wirtschaftlichen Akteuren beruhen kann. Im Bereich der neuen Technologien gibt es ebenfalls Aktivitäten – vor allem im Zusammenhang mit Kryptowährungen und Finanzspekulationen –, die allem Anschein nach einzig und allein der Spekulation dienen. Durch sie wird weder die Menge an Gütern oder Dienstleistungen gesteigert noch die Verteilung von Ressourcen verbessert. Viele dieser Aktivitäten haben eher Lotteriecharakter: Einige wenige gewinnen, viele verlieren. Adam Smith bemerkte bereits vor mehr als 250 Jahren in einer kaum beachteten Textpassage, dass es umso mehr Verlierer gibt, je größer eine Lotterie ist. Die Möglichkeit eines Verbots sollte daher nicht grundsätzlich verworfen werden – wohl aber mit Bedacht und nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen, etwa dann, wenn eine Besteuerung schwer zu realisieren ist, oder eine Aktivität so „schädlich“ oder für die Allgemeinheit so nachteilig wirkt, dass ein Verbot gerechtfertigt erscheint.Nur wenn der Staat diese drei Maßnahmen zugleich umsetzt – in wechselnder Gewichtung und zu unterschiedlichen Zeiten –, darf er darauf hoffen, dass er die zunehmende Ungleichheit in vertretbaren Grenzen halten kann, ohne Innovation und die Einführung neuer Technologien zu bremsen.Erstmals veröffentlicht auf Branko Milanovićs Substack.Aus dem Englischen von Christine HardungWeiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal