Neue Ordnungsmacht

23.10.25 12:31 Uhr

China zeigt zunehmend Präsenz in Europas Nachbarregion. Längst hat die Industrienation auch den Nahen Osten ins Visier genommen – nicht nur als Energielieferanten und wachsenden Absatzmarkt für eigene Produkte, sondern zunehmend auch in geopolitischer Perspektive. Muss sich Europa nun Sorgen machen? Womöglich weniger als befürchtet. Ein nüchterner Blick jenseits der Paranoia zeigt, dass China in der Region bislang keine disruptiven Ziele verfolgt.Die vielleicht größte Zäsur erfolgte im März 2023, als zur Überraschung vieler Beobachter Vertreter Irans und Saudi-Arabiens in Peking ihr Wiederannäherungsabkommen verkündeten. Es war Chinas erster Vorstoß in das Feld der regionalen Sicherheitspolitik, der auf globaler Bühne als Initiierungsakt von Chinas Globaler Sicherheitsinitiative (GSI) kommuniziert wurde. Die Volksrepublik, vom Westen lange als Trittbrettfahrerin in Sachen Sicherheitspolitik geschmäht, präsentierte sich als Garantiemacht eines Deals der beiden großen Rivalen um die regionale Hegemonie.Nicht ganz uneigennützig ging es Peking hier um Stabilität, bezieht das Reich der Mitte doch fast die Hälfte seines Rohöls und rund ein Drittel seines importierten Gases aus den Ländern des Nahen Ostens. Ein Krieg in der Region, der die freie Schifffahrt durch das Nadelöhr der Straße von Hormus gefährden würde, wäre ein strategischer Albtraum für die energiedurstige chinesische Volkswirtschaft. Gleichzeitig empfahl sich Peking durch die Vermittlung als ideologisch neutrale Ordnungsmacht, die ganz offensichtlich in der Lage ist, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen – eine Fähigkeit, die der eigentlich militärisch dominierenden Macht der Region, den USA, zunehmend abhandengekommen ist. Grundsätzlich gilt, dass in Peking alle internationalen Beziehungen durch das Prisma der Rivalität mit Washington betrachtet werden.Die wachsende Bedeutung des Nahen Ostens zeigte sich auch darin, dass vier der ursprünglich sechs zum Beitritt zu den BRICS+ eingeladenen Staaten aus der Region stammen. Damit sollte die ehrgeizige „Neue Seidenstraße“ geopolitisch flankiert werden. Die Einladungen erstreckten sich über alle ideologischen Grenzen hinweg – vom wichtigen US-Verbündeten Ägypten über das Ölkönigreich Saudi-Arabien bis zum US-Erzfeind Iran. Peking verfolgt in den Konflikten der Region eine abwägende Politik der Nichtparteinahme und strebt ausgewogene, gute Beziehungen zu allen Staaten an. Trotz des Vorstoßes in die Sicherheitspolitik soll es für keinen Akteur handfeste Sicherheitsgarantien geben.Dies ist auch der entscheidende Unterschied zu den Vereinigten Staaten. China tastet sich behutsam an die Region heran – allerdings mit dem klaren Ziel, die interventionistische Rolle der USA gerade nicht zu übernehmen. Chinesisches Engagement soll dort stattfinden, wo es – wie beim Iran-Saudi-Abkommen – auf einen wohlwollenden regionalen Konsens stößt. Peking ist peinlich genau darum bemüht, Polemiken zu vermeiden. Das bekam auch der Iran zu spüren: Trotz seiner Mitgliedschaft in den BRICS und in der ebenfalls von Peking dominierten Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) gab es für das angeschlagene Teheran im Zwölftagekrieg kaum mehr als warme Worte. Militärisch stand die Islamische Republik allein auf weiter Flur.Aus Pekinger Sicht ist der Iran eine verlässliche Größe im Streben nach einer postamerikanischen Weltordnung.Das bedeutet nicht, dass die Iraner die Volksrepublik geringschätzen. Für eine militärisch abenteuerliche Außenpolitik mag Peking kein verlässlicher Partner sein, doch ein grundlegendes Interesse an der Stabilität des iranischen Regimes hat die aufstrebende Weltmacht durchaus. Trotz der immer schärferen amerikanischen Sanktionen importiert China weiterhin iranisches Rohöl – und stellt damit die entscheidende wirtschaftliche Lebensader bereit, die Teheran über Wasser hält. Aus Pekinger Sicht ist der Iran eine verlässliche Größe im Streben nach einer postamerikanischen Weltordnung. Das Verhältnis ist zudem so asymmetrisch, dass China dank besonders günstiger Ölimporte auch wirtschaftlich profitiert. Zukünftig könnten die bislang gegenüber chinesischer Militärtechnologie skeptischen Iraner zudem im Rüstungsbereich zu einem Absatzmarkt avancieren. Denn Teheran muss dringend die eigene Luftabwehr wiederherrichten.All dies soll jedoch geschehen, ohne die wirtschaftlich weitaus potenteren Golfstaaten zu beunruhigen. Peking folgt dabei offenkundig der Logik, den USA zu schaden, ohne in der Region selbst Verdacht zu wecken.Dass Washingtons vielbeschworene Hinwendung nach Asien (Pivot to Asia) nicht vorankommt, liegt nicht zuletzt daran, dass die Supermacht im Treibsand des Nahen Ostens feststeckt und seit 2022 zudem durch Russlands völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine stark gebunden ist. Aus Pekinger Sicht ist das alles andere als eine ungünstige Entwicklung. Denn trotz seines wachsenden Engagements misst China dem Nahen Osten nach wie vor nur sekundäre strategische Bedeutung bei. Ob Huthi-Blockade im Roten Meer oder Nukleardilemma mit Iran – in Peking zeigt man sich wenig bereit, sich rein westlich geführten Initiativen anzuschließen.Das Ganze hat einen historischen Vorläufer. Bereits 2001 stand Amerika kurz davor, eine deutlich konfrontativere Chinapolitik einzuschlagen – bis ein saudischer Terrorist, Osama bin Laden, den strategischen Fokus der USA für zwei Jahrzehnte in andere Gefilde lenkte. Im Windschatten des „Krieges gegen den Terror“ vollzog die Volksrepublik ihren Aufstieg zur Industrieweltmacht. Man kann sagen: Sie ist eine der größten Gewinnerinnen dieses letztlich törichten Krieges.Chinas Politik der Nichtparteinahme in der Region kennt eine Ausnahme: Israel. Die Beziehungen zum jüdischen Staat haben sich seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen der Hamas und Tel Aviv im Oktober 2023 erheblich verschlechtert. Dabei war Peking zuvor durchaus an guten Beziehungen zu Amerikas engstem Verbündeten in der Region interessiert. Israel galt als geschätzter Hochtechnologiepartner – eine Wertschätzung, die auf israelischer Seite durchaus erwidert wurde. So erhielt ein chinesisches Konsortium 2015 den Zuschlag, am wichtigsten Hafen in Haifa ein Containerterminal zu betreiben. Da die Stadt jedoch zugleich Anlaufpunkt für die 6. US-Flotte ist, stieß das Projekt auf massiven Widerstand in Washington – was die israelische Regierung schließlich veranlasste, das chinesische Engagement deutlich einzuschränken.Seit Kriegsausbruch ist der politische Handlungsspielraum Israels noch enger geworden. Tel Avivs enorme militärische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Washington dürfte auch Peking dazu veranlasst haben, auf israelische Interessen kaum noch Rücksicht zu nehmen. Zumal der von massiven Kriegsverbrechen geprägte Feldzug gegen Gaza für China eine willkommene Gelegenheit bot, westliche Doppelmoral und Heuchelei anzuprangern.Als selbst ernannter Fürsprecher der Länder des Globalen Südens kann sich die Volksrepublik hier kostengünstig gegen die als arrogant empfundene, vom Westen propagierte „regelbasierte Weltordnung“ in Stellung bringen – eine Ordnung, die aus chinesischer Sicht keine universellen Werte widerspiegelt, sondern lediglich die geopolitischen Interessen Washingtons kaschiert. Diesen selbst gesetzten Regeln stellt Peking – mit den Worten von Staatschef Xi Jinping – eine „neue Ära globaler Governance“ entgegen, die sich gegen Blockkonfrontation und unilaterale Machtpolitik richtet und dem Globalen Süden mehr Mitsprache ermöglichen soll.In Chinas Staatsmedien wurde dem Krieg in Gaza – verglichen mit dem in der Ukraine – deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet.In Chinas Staatsmedien wurde dem Krieg in Gaza – verglichen mit dem in der Ukraine – deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Auch in den sonst streng kontrollierten sozialen Netzwerken darf sich der überwiegend propalästinensische Volkszorn weitgehend ungehemmt äußern. Gaza dient somit offenkundig auch der innenpolitischen Selbstvergewisserung Chinas als Führungsmacht des Globalen Südens.Kurzzeitig versuchte sich die Volksrepublik sogar als Vermittlerin: Im Sommer 2024 lud sie Vertreter von 14 palästinensischen Parteien, darunter auch die Hamas, nach Peking ein. Doch die von Außenminister Wang Yi vorgestellte „Pekinger Erklärung“ für eine künftige Einheitsregierung erwies sich als zu ambitioniert für die politische Realität. Im Unterschied zum Westen betrachtet Peking die Hamas offiziell nicht als Terrororganisation. Im Zuge des von Südafrika angestoßenen IGH-Verfahrens gegen Israel betonte der chinesische Vertreter die im Globalen Süden weit verbreitete Auffassung, dass die Palästinenser ein Recht auf gewaltsamen Widerstand gegen die israelische Besatzung hätten.Was in China für deutlich mehr Irritation sorgt als der seit Jahrzehnten schwelende Nahostkonflikt, ist Israels als äußerst störend empfundene regionale Kriegspolitik. Das nahezu folgenlose Bombardieren mehrerer Staaten – gipfelnd in der Attacke auf das Emirat Katar Anfang September – überschreitet gleich mehrere rote Linien der auf Souveränität und territoriale Integrität bedachten Volksrepublik. Israel wird vorgeworfen, seine Sicherheit ausschließlich durch die vollständige Unterwerfung anderer definieren zu können – exakt das Gegenteil der stabilitätsorientierten Vision für die Region, die Peking für sich beansprucht. Zugleich liefert dieses Verhalten China eine Steilvorlage, dem Westen Doppelstandards bei der Bewertung von Russlands Vorgehen vorzuwerfen.Trotz der für Pekinger Verhältnisse ungewöhnlich scharfen Rhetorik bleibt es bei Worten. Weder hat China seine diplomatischen Beziehungen zu Tel Aviv herabgestuft, noch hat es Sanktionen in Aussicht gestellt. Auch die humanitäre Hilfe fällt mit wenigen Millionen Euro bescheiden aus. Einmal mehr gilt in Peking das Prinzip: lieber kostengünstig die niedrig hängenden Früchte ernten, als sich übermäßig in eine Angelegenheit zu verstricken, die am Ende erhebliche Kosten verursachen könnte.Chinas Einladungen an die Europäer sind der Versuch, eine allzu enge transatlantische Kooperation zu verhindern.Ist China deshalb ein Trittbrettfahrer? Nicht unbedingt. Vielmehr dürfte dahinter nüchternes realpolitisches Kalkül stehen – im Bewusstsein, dass jene, die Chinas begrenztes Engagement kritisieren, einer offensiveren Rolle der Volksrepublik mit noch größerem Misstrauen begegnen würden.Was folgt daraus? Pekings Weg in den Nahen Osten verläuft bislang wenig disruptiv. Es ist ein vorsichtiges Herantasten – kein Einmarsch mit Fanfarenklang. Anders als die USA in ihrer neokonservativen Blütezeit oder jetzt mit ihrer bedingungslosen Unterstützung Israels zeigt China keinerlei Ehrgeiz, die Region ideologisch umzugestalten. Die aufstrebende Weltmacht agiert vielmehr stabilitätsorientiert und ist sich ihrer begrenzten Erfahrung und ihres Know-how-Defizits bewusst. „Don’t do stupid shit“ – so skizzierte Barack Obama einst seine außenpolitische Doktrin. Ein Leitsatz, der auf Pekings bisheriges Vorgehen im Nahen Osten bestens zu passen scheint.Für den Westen, und insbesondere für Europa, heißt das vor allem: realistisch bleiben. China ist keine Kraft, welche die Region gezielt gegen den Westen aufbringt. Angesichts seiner eigenen muslimischen Minderheit ist Peking dem Islamismus gegenüber ohnehin ausgesprochen wachsam. In Fragen der Stabilität sind daher durchaus gemeinsame Interessen denkbar. Der Iran-Saudi-Deal, der in Peking als großer Erfolg gilt, hat möglicherweise ein Übergreifen des Zwölftagekriegs auf die Golfstaaten verhindert. China hat damit dazu beigetragen, die iranischen Hasardeure zu zügeln – selbst in einem Moment existenzieller Schwäche. Auch das lag im europäischen Interesse.Realistisch bleiben heißt aber auch, sich keinen Illusionen hinzugeben. Chinas Technologietransfer in die Region – etwa bei Smart-City-Projekten oder KI-Anwendungen – ist nicht wertneutral, sondern stets eingebettet in den politischen Kontext der Volksrepublik. Und solange das Verhältnis Europas zu China angespannt bleibt, wird Peking dem Westen nicht im Rahmen rein westlicher Initiativen aus der Patsche helfen.Chinas Einladungen an die Europäer sind natürlich auch der Versuch, eine allzu enge transatlantische Kooperation zu verhindern. Sich darüber zu empören, führt jedoch nicht weiter. Auch Brüssel und Washington ziehen nicht immer an einem Strang – unter Trump weniger denn je. Wenn Europa klug handelt, lernt es von den Regionalmächten. Die neue, multipolare Welt ist keine Bedrohung durch Unsicherheit oder Machtverlust, sondern kann aktiv gestaltet werden. Man muss dies aber auch wollen.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal