EZB-Chefvolkswirt: "Wie in Deutschland auf die EZB geschossen wird, ist manchmal schwer zu ertragen."

Die EZB und EZB-Präsident Mario Draghi haben Rückendeckung von bedeutenden EZB-Funktionären erhalten. Die Diskussion um die niedrigen Zinsen im Überblick.
Bei der jährlich stattfindenden Konferenz "The ECB and its Watchers" in Frankfurt haben sowohl EZB-Direktor Benoit Coeure als auch EZB-Chefvolkswirt Peter Praet die wachsende Kritik an der lockeren Geldpolitik zurückgewiesen. Besonders in Deutschland kommen die jüngsten Zinsentscheidungen nicht gut an, weil private Sparer hier einen Großteil ihrer Ersparnisse auf Bankkonten halten, worauf auch das Geschäftsmodell vieler Institute beruht. Niedrige bzw. negative Zinsen sind hier unpopulär.
EZB-Direktoren verbitten sich Kritik
Coeure pocht jedoch darauf, dass die EZB vor Einzelinteressen geschützt werden müsse: "Deutschland ist das Land, das sich am stärksten für die Unabhängigkeit der Zentralbank eingesetzt hat und das zu Recht. Hier sollte diese Unabhängigkeit auch respektiert werden".Sein Direktoriumskollege Peter Praet betont, dass die Notenbank von den Umständen zu ihren geldpolitischen Maßnahmen gezwungen werde. Seit 2013/2014 seien die Inflationsraten niedriger als von Modellen prognostiziert. So belief sich die Inflation im Euroraum zuletzt auf minus 0,1 Prozent, wogegen der von der EZB mittelfristig angestrebte Zielwert bei knapp 2 Prozent liegt und zuletzt vor rund drei Jahren erreicht wurde.
Zur wachsenden Kritik aus Deutschland erklärte der EZB-Chefvolkswirt: "Wie in diesem Land auf diese Institution geschossen wird, ist manchmal schwer zu ertragen." Wer Preisblasen am Immobilienmarkt fürchte, der müsse sich fragen, wer für makroprudenzielle Politik zuständig sei. Er spielte damit auf den Umstand an, dass dies in das Ressort der Deutschen Bundesbank fällt.
EZB senkte Leitzins überraschend auf Null
Schwache Wirtschaftsaussichten für die Eurozone haben die Europäische Zentralbank ihre Geldpolitik deutlich stärker lockern lassen als von vielen Experten erwartet. Am 10. März senkte der EZB-Rat die Leitzinsen um 5 bis 10 Basispunkte, wobei der Satz für Bankeinlagen bei minus 0,40 Prozent liegt. Zudem wurde das Monatsvolumen der Anleihekäufe per 1. April von 60 auf 80 Milliarden Euro angehoben. Darüber hinaus will die EZB ab einem späteren Zeitpunkt auch Unternehmensanleihen erwerben.Bundesbankpräsident Weidmann hat seine Kritik bekräftigt
Bundesbankpräsident Jens Weidmann ist ebenfalls kein Fan von Draghis geldpolitischem Kurs. In einem Interview erklärte er: Die jüngsten Beschlüsse seien "sehr weitgehend" und hätten ihn "in der Summe nicht überzeugt". Er sieht auch keine Deflationsgefahr, mit der die EZB ihre Beschlüsse begründet: "Wir erwarten weiterhin ein Anziehen der Konjunktur und der Preise."Und weiter: "Ich habe aber immer wieder darauf hingewiesen, dass die Wirkung der ultralockeren Geldpolitik schwächer wird, je länger sie andauert", sagte Weidmann. "Gleichzeitig gilt: Je stärker man Gas gibt, desto größer werden Risiken und Nebenwirkungen." Aufgrund des Rotationsverfahrens im EZB-Entscheidungsgremium hatte Weidmann selbst bei der Sitzung am 10. März kein Stimmrecht.
Ex-ifo-Chef Sinn: "EZB am Ende ihres Lateins"
Zu den bekanntesten Kritikern der lockeren Geldpolitik gehört der Ende März in den Ruhestand gegangene Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung Hans-Werner Sinn. Für den streitbaren Professor betreibt die Europäische Zentralbank (EZB) Umverteilungspolitik statt Geldpolitik. Dies könne sie immer schwerer kaschieren, zumal sie immer weiter über die Grenzen ihres Mandats hinausgehe. Die Politik diene der "Rettung von Zombiebanken und fast konkursreifen Staaten".Die Ausweitung der Anleihekaufsumme zeige, dass die EZB am Ende ihres Lateins angekommen sei: "Mehr Wasser hilft nicht, wenn die Pferde nicht saufen wollen."
Scharfe Kritik von Deutschlands Wirtschaft, Banken und Ökonomen
Scheinbar deutschlandweit sorgte der jüngste Zinsbeschluss für viel Unmut: "Das ist eine gute Nachricht für die Börsianer und für die Schuldenländer im Süden", sagte der Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Anton Börner, nachdem die Geldpolitik nochmals gelockert wurde. "Für die deutsche Bevölkerung ist das katastrophal, die Sparer werden enteignet. Das ist eine gigantische Umverteilung von Norden nach Süden."Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat ebenfalls vor zunehmenden Negativfolgen der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) gewarnt. "Die ultraexpansive Geldpolitik im Euroraum droht immer weitreichendere Verzerrungen in den Preis- und Produktionsstrukturen zu provozieren". Die Absicht der Geldpolitik, durch niedrige Zinsen Spielräume für Strukturreformen und Haushaltskonsolidierung zu erkaufen, habe in den Ländern, wo diese Politik am dringendsten geboten wäre, "kaum bis gar nicht" gefruchtet. "Damit steigt die Gefahr, dass die Geldpolitik letztlich hinsichtlich ihrer Ziele ins Leere läuft, zugleich aber die mit dieser Politik einhergehenden Risiken von Tag zu Tag zunehmen", warnte das IfW.
Für Deutschland zeigten sich die Nebenwirkungen der extrem expansiv ausgerichteten Geldpolitik derzeit vor allem in merklich anziehenden Hauspreisen. "Blasenhafte Übertreibungen können in diesem Bereich immer weniger ausgeschlossen werden", konstatierten die Forscher des IfW.
Unverständnis äußerte auch der Bundesverband deutscher Banken (BdB). "Es ist vollkommen unnötig, dass die Europäische Zentralbank den Geldhahn heute noch weiter aufgedreht hat", sagte Hauptgeschäftsführer Michael Kemmer. "Wirtschaftsreformen sowie die Sanierung von Bankbilanzen werden verschleppt."
Zahlreiche Ökonomen stimmten in die Kritik ein: "Doktor Draghi hat die Dosis deutlich erhöht", sagte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. "Aber die Medizin wird nicht wirken, auch wenn man die Dosis erhöht." Es steige dafür das Risiko, dass es in Deutschland am Immobilienmarkt zu Überhitzungen komme. Außerdem werde der Anreiz für Euro-Länder gesenkt, notwendige Reformen durchzusetzen. "Die Investitionstätigkeit in der Euro-Zone ist auch deshalb so gering, weil die EZB mit ihren Versprechen zur immer weiteren Lockerung zur Verunsicherung beiträgt", sagte Helaba-Chefvolkswirtin Gertrud Traud.
Die EZB bewege sich auf dünnem Eis, meinte auch Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank. Viele Bürger seien über die EZB-Geldpolitik verunsichert. "Vertrauensbildende Maßnahmen sehen jedenfalls anders aus." Nach Einschätzung von Jan Holthusen, Experte bei der DZ Bank, geht die EZB mit ihrer Ausweitung der Wertpapierkäufe das Risiko ein, dass der Markt für Staatsanleihen austrocknet.
Auch die Versicherungswirtschaft blickt besorgt nach Frankfurt. "Mittlerweile ist sogar zu befürchten, dass diese unorthodoxe Geldpolitik das Gegenteil von dem bewirkt, was eigentlich beabsichtigt ist - nämlich mehr Wachstum und eine höhere Inflation", sagte der Präsident des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Alexander Erdland. "Die Notenbank läuft daher zunehmend Gefahr, von den Risiken und Nebenwirkungen ihres Tuns eingeholt zu werden."
Dass Deutschland bei der Euro-Einführung auf eine solch weitreichende Unabhängigkeit der EZB gedrängt hatte, bereitet nun mancherorts Kopfzerbrechen. Draghi selbst wird jedoch nicht müde zu betonen, dass er sich im Rahmen seines Mandats bewege.
finanzen.net mit Material von dpa-AFX, Dow Jones Newswires und Reuters
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